Mein Soundtrack des Jahres 2008 wurde dominiert vom gleichnamigen Album der Band Hercules and Love Affair – knapp 3 Jahre später veröffentlichen sie nun das Album „Blue Songs“ und mit voller Vorfreude und hohen Erwartungen, die durch die beiden bereits online zu hörenden Songs bei mir entstanden sind, ist es vor allem die Tatsache, dass sich die Band an den einfachen, groovigen, kitschigen vocal House der späten 80er Jahre erinnert und ihn feiert. Vor allem im Video zu „My House“ werden die Referenzen zur Ball Culture offensichtlich, unterteilt in „Houses“, treten damals wie heute Gay und Gay-friendly Paradiesvögel in Vogueing Contests gegeneinanger an. Vogueing ist schwer zu erklären, in einer Mischung aus gymnastischen Posieren, extravaganten Gestikulieren mit dem gesamten Körper, geht es um das Ausspielen des Gegenübers in einer Art Tanz um mehr Schönheit, Eleganz und vor allem, den besseren Moves.
Im Mainstream bekannt wurde diese Szene 1991 durch den Dokumentarfilm „Paris is Burning“ und später durch ihren bekanntesten Vertreter, Willi Ninja, der einen Karriereschub erlebte, nachdem er für Madonnas Video zu „Vogue“ die Choreographie vorgab und selbst für Jean-Paul Gaultier den Laufsteg betrat. Der Einzug der Gay Culture in die Modewelt war Anfang der 90er Jahre längst überfällig. In der Ballroom Szene von New York und Washington, in der kein (meist selbstgeschneidertes) Kleid zwei mal getragen werden durfte, waren Supermodels nicht nur Vorbilder, sondern auch projektionsfläche der Sehnsüchte und Wünsche vieler homosexueller, junger, schwarzer Amerikaner und Latinos der damaligen Zeit.
Dass vor allem die heutigen Models sich dieser reichen Kultur bedienen wollen, zeigen nicht nur die Auftritte von Benny Ninja, einem Nachfahre im House of Ninja, in Americas Next Topmodel. Dort agiert er als Coach, Juror und als glitzerndes Beispiel der vergangenen goldenen Jahre der Ballroom Scene, jedoch nie so glamourös wie seine Vorfahren (oder zu seinen frühen Zeiten). In der Sendung wurde den Kandidaten das Vogueing erklärt und dazu aufgefordert, die Gegenspielerin mit möglichst ansehnlichen Verrenkungen herauszufordern und zu „besiegen“. Doch gerade die großen, schlanken Männer und vor allem gerade diejenigen, die in Ihrem Auftreten mehr weibliche Grazie an den Tag legen als jedes möchtegern Topmodel, stellen heutige Models und ihre Posen weit in den Schatten. Gerade diese „falsche“ Weiblichkeit wird in der Ball Culture von vielen so ausgelebt und in ihrer Art, unter Berücksichtigung des Trashfaktors ihrer Aufmachungen, so realistisch wiedergegeben, dass diese schönen Wesen als solche perfekte Modelle darstellen, mindestens genauso schön wie ihre Vorbilder und Heldinnen der frühen 90er Jahre – Paulina Porizkova, Tyra Banks oder Elle Macpherson.
Aus dem Untergrund heraus und auch nach der Veröffentlichung von „Paris Is Burning“ sahen sich die frühen Mitglieder Diskriminierung und Anfeindungen ausgesetzt. Die jungen schwulen Männer, meist früh von zu Hause weggelaufen, sahen ihr House als wahre Familie, auf der Tanzfläche waren sie schön und einzigartig und trotz der Zickenkriege unter den Gruppen, anerkannt und sicher. Das bewahrte sie jedoch nicht vor dem Hass in der realen Welt, in der sie stehlen und sich prostituieren mussten – während der Dreharbeiten zu „Paris Is Burning“ wird eine Protagonistin von einem ihrer Freier ermordet. Im Laufe der späten 90er Jahre starben viele von Ihnen viel zu früh an AIDS, so auch Willi Ninja im Jahr 2006.
Heute lebt Vogueing in seinen vielen Weiterentwicklungen unter Anderem auf Youtube weiter. Meist sehr junge Tänzer und Tänzerinnen treten dort noch heute, als Mitstreiter einen Houses, gegeneinander an. In vielen großen Städten wird die Kunst, sich durch den Tanz als schön und einzigartig darzustellen, zelebriert – und das nicht nur durch die Gay Community. Als schillernde neue Figur, welche sich direkter Anleihen aus der Ball Culture und vor allem deren Drang zum Extravaganz bedient, gilt heute vor allem Lady Gaga, die mit ihrer Entourage das „House of Gaga“ gründete.
Während Heidi Klum in Deutschland in Ihrer Sendung kaum noch Wert auf den Ausdruck der Models auf den Bildern legt und diejenigen nicht wegen ihres inszenierungsgeschickes vor der Kamera gewinnen, sondern aufgrund ihrer Fähigkeit, sich so unauffällig wie möglich und ohne Drama durch die Sendung zu schleichen, scheint es bräuchte diese Welt wieder etwas mehr Theater, einen großen Ballroom, der doch zu klein ist für den glanz der Kostümierung, der Leidenschaft und dem Ego der Protagonisten. Hercules and Love Affair bringen diese Zeit zurück, schieben die Schönheiten der Ball Culture wieder in die Öffentlichkeit und dominieren damit mein 2011.